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Waldmeisterbowle

Soloauftritt für ein seltenes Gewürzkraut

Zu besonderen Gelegenheiten wird im Fränkischen Freilandmuseum des Bezirks Mittelfranken Bowle serviert. Bei der Veranstaltung „Küche und Kochen im Wandel der Zeit“ kann man die Entwicklung der Kochtechniken und der zeittypischen Gerichte bei einem Gang durch die Häuser des Museums nacherleben. Im Stahlhaus aus Nerreth werden beispielsweise Speisen prä-sentiert, die bei Cocktailpartys in den Fünfziger und Sechzigerjahren beliebt waren. Die Bowle durfte bei diesen Gelegenheiten selten fehlen. Als Waldmeisterbowle bietet sie einen Soloauftritt für das seltene Maikraut. Diese „Wildkräuterküche“ weckt bei älteren Museumsbesuchern nostalgische Erinnerungen an gesellige Feiern. Um den Frühlingsmonat Mai gehörig zu feiern, verrate ich hier ein schönes Maibowle-Rezept, das am nächsten Tag auch kein Kopfweh ergeben sollte.

Bowle und Punsch aus England

Heute bezeichnet man mit Bowle ein eisgekühlt serviertes Getränk und mit Punsch ein Heißgetränk. Der englische Begriff „bowl“ beschreibt einen Napf oder eine gewölbte Schale. Das englische „punch“ ist dafür ein Synonym. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff Bowle öfter vor für eine in einer Terrine mit dem Schöpflöffel serviertes Getränk verwendet. Bowle ist ein alkoholisches Mischgetränk auf Weißweinbasis, häufig mit Fruchtstücken. Der in England ebenso beliebte Punsch ist ein alkoholisches Mischgetränk mit Rum, Arrak oder auch Wein und Gewürzen. Bowle und Punch werden in gewölbten Gefäßen aufgetragen und mit Schöpfkellen ausgegeben. Die beiden Begriffe „Bowle“ und „Punsch“ sind in historischen Texten oft vermischt und austauschbar (auch in der Definition, z. B. in Pierer’s Universal-Lexikon von 1857, S. 156). Dies zeigt der Begriff „Feuerzangenbowle“ – der eigentlich einen Widerspruch in sich darstellt.

Bowle und andere Speisen, die in den Fünfzigerjahren beliebt waren, gibt es bei der Veranstaltung „Küche und Kochen im Wandel der Zeit“ im Stahlhaus aus Nerreth im Fränkischen Freilandmuseum, Foto Heidemarie Lehmann-Wetzel

Prächtige Bowls für den Tafelmittelpunkt

Eine Gesellschaft trinkt Bowle 1950er, Foto im WDRdigit – Archiv des analogen Alltags

Schon in der Namensgebung spielt der Serviertopf eine große Rolle. Der besonders schöne Bowletopf mit den dazu passenden Trinkbechern und das Getränk, in dem Früchte schwimmen, macht die Bowle zu einem dekorativen Gang – dem Gegenteil einer Alltagsspeise. Eigentlich könnten man sie ja auch im Suppentopf oder in der Suppenterrine servieren. Wie Eisbecher mit aufwändigem Dekor, Flambiertes oder Sahne-Torten beansprucht die Bowle den Mittelpunkt der Tafel. Für eine Bowle braucht es auch eine größere Trinkgesellschaft. Denn es gilt, dem Inhalt des großen Topfes Herr zu werden. Damit garantiert die Bowle eine besondere Geselligkeit.

Im 19. Jahrhundert sind überaus kunstvolle Bowlegefäße gefertigt worden. Besonders der Historismus brachte üppig geschmückte Bowletöpfe aus Silber, Kristallglas, Kupfer oder Keramik hervor. Mathilde Erhardt bildet in ihrem „illustrierten Kochbuch für den einfachen bürgerlichen und den feinen Tisch“ im Jahr 1904 gleich mehrere solcher Gefäße ab: eines aus Glas und eines aus „rheinischem Steinzeug“. Sogar einen speziellen „Maitranklöffel mit Deckel“ schlägt sie vor. Das ist eine silberne Schöpfkelle mit einem durchbrochenen Deckel. Ist er geschlossen, geht nur Flüssigkeit durch. Ist er aber geöffnet kann man Früchte abschöpfen. Der Bowletopf aus Steingut ist geschmückt mit einem Knaben, der auf der Laute einer kostümierten Dame mit Fächer ein Ständchen singt – umgeben von reichlich Neorenaissance Rollwerk. Solche historisierenden Objekte mit plastischer Oberfläche wurden im Rheinland und im Westerwald in der dortigen Keramikproduktion hergestellt. Damit retteten die Töpfer-Handwerker ihr Gewerbe noch ins Industriezeitalter hinüber.

Das abgebildete Bowleset mit Motiven der Rheinromantik aus den Zwanzigerjahren wurde bereits industriell gefertigt von der Aktiengesellschaft Wick-Werke in Höhr-Grenzhausen, dem Zentrum der Westerwälder Keramikproduktion. Seit Ende des 19. Jahrhunderts waren derartige mit Rhein-Burgen dekorierte Töpfe beliebt. Sie sind im Grundaufbau alle ähnlich. Dieser hier verrät mit Fruchtkörbchen als Deckelknauf und den Ecken der Henkel mit jugendstiligen Früchten seine späte Entstehungszeit. Die Rheinromantik entdeckte die Flusslandschaft des Rheintals mit kühnen Burgen auf wilden Felsen als romantische Sehnsuchtslandschaft und frühes touristisches Reiseziel. Seit der Rheinkrise im Jahre 1840, als in der französischen Öffentlichkeit der Rhein als Außengrenze beansprucht wurde, wurde diese Rheinromantik zunehmend nationalistisch aufgeladen. So konnte die Darstellung der wehrhaften Burgen am Rhein auch für die „Wacht am Rhein“ stehen. Das entsprechende Lied, das zur inoffiziellen Nationalhymne im deutschen Kaiserreich avancierte, beschwor deutschnationale Verteidigungsbereitschaft. Die Rheinlandschaft passte aber auch in kulinarischer Hinsicht besonders gut zur Bowle, gedieh dort doch der edle Rhein- und Moselwein. Wegen des milden Klimas im Rheinland galten die dortigen Weine bis in die Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts als die lieblichsten und spritzigsten deutschen Weine. So empfehlen die Kochbuchautoren gerne „Rhein- oder Moselwein“ für die sommerliche Bowle. Sogar im „Praktischen Kochbuch für die Deutschen in Amerika“ von 1897 (S. 348) wird für Maiwein „Rhein- und Moselwein“ empfohlen. Eine Familie aus Düsseldorf brachte den abgebildeten Bowletopf kurz nach seiner Herstellung mit nach Bayern.

Eisgekühltes Luxusgetränk

Auch die Servierform der Bowle: gekühlt am besten mit Eis – machte die Bowle zum Luxusgetränk. Schon bei den Römern galt mit gepresstem Schnee gekühlter Wein als dekadenter Luxus. Im Barock waren eisgekühlte Getränke im höfischen Umfeld gefragt (Camporesi, 1992). Das Spektrum der in der besseren Gesellschaft beliebten Sommergetränke zeigt der genussfreudige Wolfgang Amadeus Mozart in einem Kanon (KV 234/382) auf, den er 1782 in Wien komponierte:

„Bei der Hitz im Sommer …
nehm [ich] Limonade, Mandelmilch,
auch zu Zeiten Horner Bier;
das im heißen Sommer nur.
Ich für mich in Eis gekühlts Glas Wein,
Auch mein Glas Gefrohrnes.“

Heute ist dieser Kanon unter dem etwas allgemeineren Text “Essen, Trinken, das erhält den Leib” bekannt. Brunnenwasser und Most, die Sommergetränke der einfacheren Leute, erwähnt Mozart erst gar nicht. Er nennt gekühlte Getränke: Bier, das einen (Eis-)Keller zur Lagerung erfordert und Wein, gekühlt mit Eis aus dem Haushalt – oder gleich Speiseeis.

Für die Eiskühlung der Bowle gab es Krüge mit Glaseinsätzen oder sogenannte Bowleeier aus Glas, die man in den Bowletopf hängt. Damit kann man Bowle kühlen, ohne sie zu verwässern. Man vermeidet damit auch die direkte Berührung des Eises mit dem Getränk. Noch bis in das 20. Jahrhundert warnen Kochbuchautoren davor, Natureis direkt zu konsumieren, denn es konnte Verunreinigungen enthalten. Im Winter wurde aus Seen Eis gebrochen, das man in sogenannten Eiskellern bis zum Sommer lagerte. Gasthäuser und besser gestellte Haushalte ließen sich mit diesem Eis beliefern. Im Eisschrank kühlte das Eis Speisen und Getränke, bis es weggeschmolzen war und durch eine neue Lieferung Eis ersetzt werden musste. Mit Strom gekühlte Schränke wurden zwar schon Ende des 19. Jahrhunderts erfunden, setzten sich als Kühlschränke in Privathaushalten aber erst mit der allgemeinen Elektrifizierung in den 1950er-Jahren durch. Von da an waren Eiswürfel aus den anfangs noch kleinen Eisfächern der Kühlschränke allgemein verfügbar.

In dieser Zeit entwickelte sich die Bowle zum beliebten Partygetränk. Passend zur neuen Leichtigkeit der Fifties waren nun transparente Bowlesets aus Glas – gerne mit Kristallschliff, wie auf den Einstiegsbildern zu sehen, verbreitet. Ebenso wie Bowlesets waren zu dieser Zeit auch andere dekorative Serviergeschirre sehr beliebt: wie das Körbchen für die Weinflasche, der Salzlettenständer, die nierenförmige Gebäckschale, der Schnapsgläschenhalter aus Bambus oder Elox und ähnliches –dekoriert mit exotischen Motiven wie venezianischen Gondeln, Eifeltürmen oder Ananasfrüchten. Alles in allem die verdinglichte Sehnsucht nach dem guten Leben und der Freiheit nach den Entbehrungen in den Kriegsjahren. Solche Ausstattungsstücke für die Cocktailparty waren hoch geschätzte Geschenke. Für sie wurde im Vergleich zu Alltagsgeschirr viel mehr Geld ausgegeben, obwohl diese Stück viel seltener benutzt wurden. Dementsprechend haben sich auch zahlreiche solcher Partyrequisiten erhalten. Sie waren die Prämien des neuen guten Lebens, die Zierde im (Gelsenkirchner-)Wohnzimmerbuffet, in deren Mittelpunkt oft das große Bowleset im Vitrinenfach stand. Dazu passend gab es Bowlespieße zum Aufspießen der Früchte aus der Bowle oder spielerische Anhänger zur Markierung der Gläser, etwa mit kleinen Glasfrüchten oder Figürchen. In den Siebzigerjahren waren die Bowletöpfe dann gern wieder aus Keramik glasiert in bunten Farben – rustikal-folkloristisch mit und ohne Blumenmuster, bis Bowle aus der Mode kam und die Bowletöpfe in den meisten Haushalten in der Versenkung verschwanden.

Bowle Getränk für Männerabende, bürgerliche Gartennachmittage und Familienfeiern

Auf dem anonymen Scherenschnitt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts trinken zwei jüngere Männer offenbar Bowle. Das Gegenstück dazu sind Scherenschnitte mit Kaffee trinkenden Damen. Auch auf frühen Fotografien wovon z. B. das Portal WDRdigit – Archiv des analogen Alltags einen aussagekräftigen Querschnitt veröffentlicht, finden sich einige Herrengesellschaften mit Bowle. Julius Stettenheim geht in seinem „Moderne(n) Knigge“ von 1905 (S. 84-85) selbstreden von Männern als Bowlegesellschaft aus. Ganz zum Ende längerer Auslassungen erwähnt er auch noch die Ausnahme:

„Gehören Damen zur Bowlenrunde, so sage man ihnen, es schade ihnen die Bowle nicht, sie könnten trinken nach Herzenslust. Dies wird von ihnen nicht geglaubt, und sie trinken daher mehr als sie vertragen können. So reizend eine Frau ohne Spitz sein kann, so reizend kann eine Frau mit einem Spitz sein.“

So galt die Bowle offenbar Anfang des 20. Jahrhunderts noch eher als Herrengetränk. Einige wenige Fotos zeigen so ab den 1920er Jahren auch schon gemischte, bürgerliche Gartengesellschaften mit sommerlicher Bowle. Kurt Tucholsky sieht in einem Gedicht von 1920 „Was fange ich Silvester an?“ drei Optionen in drei Gedichtstrophen für diesen Abend: Silvester entweder mit dem Generaldirektor zu feiern, im Familienschoße zu bleiben oder im Amüsierviertel zu verbringen. Zur Familienfeier schreibt er:

„Wälz ich mich im Familienschoße? …
Um zwölf steht Rührung auf der Uhr.
Die Bowle –! (›Leichter Mosel‹ nur –).
Prost Neujahr!“

Die Silvesterbowle scheint also schon zum Repertoire der häuslichen Familienfeier zu Silvester zu gehören. Auch aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren als die Bowle und auch die Fotografie populär wurden, zeigen private Fotos nun häufig Bowle-Gesellschaften mit Weihnachtsbaum im Hintergrund, auch maskierte Gäste an Fasching, Sommerbowle im Garten, aber auch bowletrinkende Gesellschaften zu anderen Gelegenheiten sogar Hochzeiten und Taufen. Bowle ist nun ein populäreres Familiengetränk. Sie scheint besonders bei Frauen beliebt gewesen zu sein. Auf dem eingangs abgebildeten Foto fällt auf, dass nur vor den Frauen die Bowlebecher stehen, vor den Männern dagegen Bierflaschen. Immer wieder habe ich von längst Erwachsenen erzählt bekommen, wie für sie als Kinder das Naschen von den Bowlefrüchten die erste Erfahrung mit Alkohol war. So singt der selbsternannte „Wein-Kabarettist“ Ingo Konrad ein Loblied auf die Bowle.

„Neulich war ich bei meinen Eltern zu Besuch. … plötzlich sehe ich ihn: Unseren neobarocken Bowletopf. Er war ein Koloss unseres Hausrates, ein Erbstück ganzer Generationen. Drei Tonnen schwer und aus Keramik. … Augenblicklich fühlte ich mich in meine Kindheit versetzt. Der Raum begann sich zu drehen, ein Zeitloch tat sich auf und ich taumelte und nahm wie von einer fremden Macht gesteuert Platz auf dem kreisrunden roten Sitzkissen mit den orientalischen Motiven, das auf einmal wieder wie damals mitten im Raum stand. Offensichtlich war ich in den 1970er Jahren gelandet. Tatsächlich: Das Wohnzimmer sah jetzt wieder aus wie in meinen Kindertagen: Der Boden bestand aus großen, cremeweißen Natursteinfliesen, darauf ein kreisrunder Flauschteppich, in dem wir Kinder immer Erdnüsse fanden. An der Seite ein aus Backsteinen kubistisch gemauerter offener Kamin. Mittig ein rechteckiger Couchtisch, der auf einer zentralen Säule ruhte und sich mittels eines ausgeklügelten Federmechanismus‘ und eines kleinen Hebels in der Höhe verstellen ließ. … Ich beobachtete, wie mein Vater, jetzt wieder ganz der junge Mann von damals, feierlich mit der Bowle den Raum betrat. Breitbeinig wie ein Matrose. Mit zum Bersten angespannter Oberkörpermuskulatur. Vor sich gefühlte 50 Liter Flüssigkeit. In einem aufwendigst verzierten Bowlentopf. An den Seiten waren Darstellungen von sechs Rheinburgen zu sehen, dazwischen Reliefs von Weinlaub und Trauben. Und oben drauf hockte die halbnackte Loreley, die als Deckelgriff diente. … Die Pfirsiche und der Wein waren schon drin, jetzt schütteten meine Eltern noch Sekt und Schnaps als Wirkungsbeschleuniger dazu. So eine Bowle soll ja in erster Linie wirken. Wir Kinder durften nicht von der Bowle probieren. Wegen des Alkohols. Aber von den Früchten durften wir naschen. Die waren ja gesund. … Ich hing meinen Gedanken nach. Es war meine Mutter, die mich aus meinen Träumen riss: „Ingo, wo bleibst Du …?“ … „Du sprichst ja genau so wie früher, als Du von den Bowlefrüchten genascht hast!“ (http:// weinjocker.blogspot.com am 14.4.2021)

Der fruchtig-geistvolle Inhalt der Bowle: Ananas und Erdbeeren

Die Bowlefrüchte scheinen die Bowle erst auszumachen. Waldmeisterbowle wird in historischen Kochbüchern fast nie allein erwähnt. Daneben wird meist auch ein Rezept für Ananas- oder Erdbeerbowle empfohlen. Obwohl immer wieder behauptet wird, Bowle solle schon 400 Jahre alt sein, konnte ich keine Belege für ein Getränk unter diesem Namen finden. In Amaranthes Frauenzimmerlexikon aus dem Jahr 1715 (S. 486) ist noch von einer „kalten Weinschale mit Erdbeeren“ die Rede. Erst seit dem 19. Jahrhundert finden sich vermehrt Rezept und Erwähnungen von Bowle als Getränk. In einer Rezeptsammlung aus dem Goethehaus Anfang des 19. Jahrhunderts finden sich mehrere Rezepte für Erdbeer- und Ananasbowle (S. 88 – 89). Von Adele Schopenhauer stammt das Rezept für den „Maitrank“. Zuerst kommt hier eine Orange und einem Pfund Zucker in den Topf. „Dann füllt man die ganze Terrine mit Waldmeister und gießt 4 Flaschen leichten Moselwein auf.“ (S. 87) Mit dem Waldmeister ging man also sehr großzügig um.

Mit der Ananas verfuhr man dagegen umso sparsamer. Eine Übertragung des Kochbuch-Klassikers von Henriette Davidis für Deutsche in Amerika von 1897 rechnet „eine in dünne Scheiben geschnittene Ananas“ für 13 Flaschen Wein. Und schließt dann noch eine Empfehlung zum Einkochen einer eventuell übrigbleibenden Frucht an. Ananas und Erdbeeren wurden beide ab Mitte des 19. Jahrhunderts gewerbsmäßig in größerem Umfang angebaut. Die im 18. Jahrhundert schon in der höfischen Orangerie in Sanssouci gezüchteten Ananas waren unerschwinglicher Luxus. Im 19. Jahrhundert kultivierten dann auch Handelsgärtnereien Ananas. Ein Potsdamer Händler bewarb ab 1840 in der Vossischen Zeitung seine eingekochte Ananas unter anderem für Ananasbowle. (Potsdamer Neueste Nachrichten vom 09.07.2015, online) Teuer blieben eingemachte Ananas aber weiterhin. Noch in den Fünfzigerjahren war Ananas aus der Dose für breite Bevölkerungsschichten in der Bundesrepublik ein erreichbares, aber doch noch etwas exotisches Luxusgut. In dieser Zeit kommt auch der Toast Hawaii mit Ananas, Kochschinken und Käse auf. In der DDR waren Ananas bis in die 1980er Jahre nur in Delikat- oder Exquisitläden für den gehobenen Bedarf sehr teuer oder nur gegen Devisen erhältlich. Von Ananastorte oder Bowle mit Ananas als ganz besonders guten Speisen erzählten viele Gesprächspartner in Interviews zur Alltagsgeschichte der DDR (Meggle, 2004, S. 343, 391). Heute wird Bowle ostalgisch als typisches DDR-Getränk etikettiert, das ruhig etwas stärkeren Alkohol und etwas mehr Zucker enthalten darf, damit sie schneller wirkt. 1959 wurde in der DDR zum 10. Jubiläum der Republik der Film „Maibowle“ produziert. Es war ein Lustspielfilm mit freundlichen Lobpreisungen der sozialistischen Menschengemeinschaft und des Chemieprogramms der DDR und einigen reichlich trunkenen Darstellern. Als Aufhänger diente ein jährliches Familientreffen mit Maibowle zum Geburtstag des Vaters. Bowle war in der DDR aus den gleichen Gründen wie im Westen in den Fünfziger und Sechziger Jahren beliebt: Sie war dank der exotischen Früchte und Gewürze etwas Besonderes, gleichzeitig war sie auch einfach. Jeder Alkohol, der zur Verfügung stand, auch unterschiedliche Arten, konnten zusammengemischt werden. Der Zucker übertönte dann eventuelle geschmackliche Ungereimtheiten und beschleunigte den Anstieg der Stimmung. Im Osten Deutschlands hat sich die Vorliebe für Bowle länger gehalten als im Westen, wo teurere Cocktails die Bowle ablösten. Letztlich ist das Rezept für Bowle als gekühlte Mischung von Wein, anderem Alkohol, Gewürzen oder Früchten und Zucker auch seit dem 19. Jahrhundert im Wesentlichen gleichgeblieben.

Waldmeister oder Mayenkraut für die Maibowle

Zur Maibowle, der Frühlingsbowle, braucht es als essenzieller Zutat das Waldmeisterkraut. „Maitrunk“, „Maiwein“ und „Maybowle“ gibt es nur im April, Mai und Juni, wenn der Waldmeister wächst. Waldmeisterkraut ergibt ein sehr spezifisches Aroma. Sein botanischer Name ist „Galium odoratum (L.) scop.“. Im Volksmund hat die Pflanze verschiedene Namen wie z.B. Waldmeister, Waldmeier, Mäserich, Gliedkraut, Maikraut oder Maienkraut. Die Pflanze wird 10 – 30 cm hoch. Sie wird als Heil- und Gewürzkraut verwendet. Die einzelnen aufrecht wachsenden Stängel haben spitze kahle Blätter in Quirlen. Die kleinen weißen Blüten bilden endständigen Scheindolden. Die Pflanze soll geerntet werden, bevor sie blüht. Ihr Geruch ist angenehm. Erst wenn man die Pflanze trocknet, entwickelt sich das intensive Aroma. Die Pflanze bevorzugt Buchen- und Mischwälder mit nährstoffreichen Böden. Waldmeistersirup oder Waldmeisteraroma für Götterspeise wird heute eher künstlich im Labor hergestellt, weil die Waldmeisterpflanze Cumarin enthält. Cumarin wirkt in größerer Menge als Nervengift. Cumarin findet man auch in anderen Pflanzen. Es verleiht z. B. dem Heu seinen typischen Geruch oder ist in den jetzt modischen Tonkabohnen enthalten. Gern werden damit heute auch Kosmetika aromatisiert. Da der Cumaringehalt im Waldmeister ziemlich gering ist, treten kaum ernsthafte Vergiftungen beim Verzehr des Waldmeisters auf. Wird Waldmeister jedoch in größeren Mengen genossen, können durchaus Kopfschmerzen und Benommenheit auftreten. Der Waldmeister wurde früher wegen seines angenehmen Duftes auch als Motten- und Insektenschutz – gerne in Büscheln – in die Kleiderschränke gehängt (https://www.pflanzenfreunde.com/heilpflanzen/waldmeister.htm, abgerufen am 16.4.2021). Wer ganz sicher gehen will, kann die Pflanze auch als Gewürzkraut im Topf kaufen, z.B. beim Kräutermarkt im Fränkischen Freilandmuseum.

Waldmeister-Erdbeer-Bowle

Waldmeister-Erdbeer-Bowle in einem Glastopf von 1919, Foto Margarete Meggle-Freund

Die Anregung zu meinem Bowleexperiment lieferte ein gläserner Bowletopf. Zuerst wollte ich ihn nur als Blumenvase verwenden. Aber die Bowle stieß auf so positive Resonanz, dass er nun öfters zum Einsatz kommt. Den Glastopf hatte die Mutter der Schenkerin aus einem städtischen Handwerkerhaushalt im Jahr 1919 zur Hochzeit bekommen. Typisch für die Zeit ist die Wahl des edlen Bleikristalls, dabei aber der Verzicht auf üppiges Ornament. Nur ein schlichter paralleler Schliff markiert den Rand des zylindrischen Gefäßes. Die Tischdecke mit dem eingewebten antikisierenden, geometrischen Mäandermuster und die später rot gestrichenen Küchenstühle mit den senkrechten Leisten im Rücken stammen aus der gleichen Zeit. Von den ebenfalls zylindrischen Trinkbechern haben sich nur wenige erhalten. Sie wurden in den Sechzigerjahren um rundbauchige Trinkbecher und Cocktailspießchen aus Kunststoff zum Aufspießen der Bowlefrüchte ergänzt. Die Schöpfkelle aus Plexiglas kam in den Siebzigerjahren dazu.

250 g Erdbeeren, 3 Teelöffel Agavensirup, 1 Sträußchen Waldmeisterkraut (8 Stängel), 1 Flasche (0,75 l) sommerlicher Weißwein, 1 Flasche (0,75 l) trockener Sekt, Mineralwasser mit viel Kohlensäure und nach Bedarf Eiswürfel

Den Waldmeister über Nacht antrocknen lassen oder einfrieren, erst dann entfaltet sich sein Aroma. Dabei wird er schwarz. So kann man sich auch etwas Vorrat an Waldmeister anlegen. Die Erdbeeren waschen und die größeren Früchte in Stücke schneiden, die sich gut aufspießen lassen. Mit Agavensirup leicht süßen, darauf den Wein gießen und einige Stunden kaltstellen und einziehen lassen. Dann für eine halbe Stunde das Waldmeistersträußchen über einem Kochlöffel, der über den Topf gelegt wird, an einem Faden in den Wein hängen. Die holzigen Enden der Pflanzen sollen nicht ins Getränk kommen. Kurz vor dem Ausschenken den gut gekühlten Sekt zugießen. Die Bowle schmeckt am besten kalt, deshalb bei Bedarf noch Eiswürfel zugeben. Wer weniger Alkohol zu sich nehmen möchte, kann auch mit gut gekühltem Mineralwasser verdünnen.

Variante Rosenbowle: Hier noch als Variante eine Rosenbowle, die ebenfalls im 19. Jahrhundert überliefert ist, falls man die Erntezeit des Waldmeisters verpasst hat. Passend zur Romantik soll sie auch aus England kommen.

4 ungespritzte Rosenblüten, einige Rosenblätter als Dekor, 5 Spritzer Rosenwasser, 1 Flasche (0,75 l) sommerlicher Weißwein, 1 Flasche (0,75 l) trockener Sekt, Mineralwasser mit viel Kohlensäure und nach Bedarf Eiswürfel

Rosenblätter abzupfen mit Rosenwasser und Wein ansetzen und 4 Stunden ziehen lassen, vor dem Servieren mit Sekt aufgießen und mit einigen Rosenblättern als Dekor bestreuen.

Ob es Kopfweh gibt, hängt an der Qualität des Weins. Eine Bowle aus einem guten trockenen (fränkischen) Wein und Sekt mit nicht zu viel Zucker und natürlich in Masen getrunken, ist bekömmlich. Sehr gut passt das Waldmeisteraroma auch zu Spargel.

In meiner Kulinarikserie des Fränkischen  Freilandmuseum Bad Windsheim finden sich alte und erneuerte Rezepte mit Zutaten aus Franken, einfach und alltäglich, oder auch einmal aufwendigere, kreative Rezepte mit kulturhistorischem Hintergrund.

© Dr. Margarete Meggle-Freund
Kulturwissenschaftlerin
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