Sauberkeit zu jeder Zeit
Der Siegeszug der modernen Hygiene
In Zeiten der Corona-Pandemie ist hygienisches Verhalten zur Bürgerpflicht und solidarischen Aufgabe geworden. Die Umsetzung der Erkenntnisse von Infektiologie und moderner Hygiene ist seit dem 19. Jahrhundert in Europa eine ermutigende Erfolgsgeschichte: Die einst gefürchtete Tuberkulose gilt durch die Entwicklung von Impfstoffen heute bei uns als weitgehend verschwunden. Auch die Cholera kommt durch den flächendeckenden Ausbau einer modernen Trinkwasserversorgung in Europa kaum mehr vor.
Als Vorgeschmack auf die Sonderausstellung „Sauberkeit zu jeder Zeit! Hygiene auf dem Land“, die im Jahr 2020 zu sehen ist, stellt das Fränkische Freilandmuseum des Bezirks Mittelfranken eine kleine Geschichte der Hygiene auf dem Land in sechs Stationen vor.
„Sauberkeit zu jederzeit“ – der titelgebende Spruch der Ausstellung findet sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Zierhandtuch. Mit solchen Zierhandtüchern wurden in der Küche aufgehängte Küchenwerkzeuge oder benutzte Lumpen und weniger saubere Geschirrtücher verdeckt. Arbeiterfrauen erzählten, dass sie mit solchen Zierhandtüchern nach dem großen Putz am Samstagnachmittag stolz die Küche schmückten. So stellten diese bestickten Handtücher für kurze Zeit einen Zustand vollständiger, rein-weißer Sauberkeit her. Es mag auch der Stolz auf die Stickerei mitschwingen. Nicht jeder Frau stand die Möglichkeit offen, Nähen und Sticken zu lernen. Meist konnten nur bürgerliche Frauen aus wohlhabenderen Familien die Hauswirtschaft in Kursen erlernen. So steht die Verwendung eines Zierhandtuchs auch für den Wert als Frau, etwa als „Kapital“ auf dem Heiratsmarkt. Sauberkeit war Anfang des 20. Jahrhunderts damit zu einem durchgängigen Ideal geworden.
Zur Hygiene zählen aber in einem viel weiteren Sinne alle Bestrebungen und Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten und Gesundheitsschäden. Dieses umfassende Verständnis propagierten die Aufklärer bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Vor der Aufklärung herrschte so mancher Irrglaube. Beispielsweise wurde warmes Wasser gemieden. Vornehme und Adelige wechselten lieber öfter die Wäsche und parfümierten sich als warme Bäder zu nehmen. Diese Angst vor warmen Bädern ging zurück auf die noch im 18. Jahrhundert vorherrschende Vorstellung von den sogenannten „Miasmen“. Miasmen nannte man Zersetzungsprodukte von menschlichen, tierischen und pflanzlichen Stoffen, die sich in sumpfig-feuchten Böden von Abtrittsgruben und Friedhöfen bilden. In Gestalt fauliger Ausdünstungen, so glaubte man, gelangten diese „Ansteckungsgifte“ ins Wasser und in die Luft. Über die Atmung und die Haut würden sie dann vom Körper aufgenommen. Warmes Wasser – so die damalige Meinung – öffnete die Poren der Haut, so dass die gefürchteten Miasmen umso leichter eindringen konnten.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts kam es in der Aufklärungsmedizin zu einer Neubewertung der Haut, die nun als Organ des Ein- und Ausatmens betrachtet wurde. Die Hautoberfläche sollte daher mit Wasser reingehalten werden. Das aufstrebende Bürgertum betrachtete den Körper als Arbeitsinstrument, das leistungsfähig und sauber gehalten werden sollte. So etablierte sich im 19. Jahrhundert die Hygienebewegung immer mehr. Führende Vertreter der Hygienebewegung wie Max von Pettenkofer (1818 – 1901) und Rudolf Virchow (1821 – 1902) traten energisch für den Bau moderner Kanalisationssysteme ein und stellten die Hygiene auf naturwissenschaftliche Grundlagen. Etwa zeitgleich war auch die Bakteriologie zu einer führenden Leitwissenschaft in Deutschland aufgestiegen. Ab 1880 identifizierten Bakteriologen beinahe jedes Jahr einen spezifischen Keim als Erreger einer Infektionskrankheit. Die Erreger konnten auf Oberflächen durch Erhitzen oder mit Desinfektionsmitteln abgetötet werden, um ein Eindringen in den menschlichen Körper zu verhindern. So gerieten gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Hygieniker, die Krankheit als ein Bündel von medizinischen und sozialen Faktoren erklärten, ins Hintertreffen – zugunsten der monokausalen Erregertheorie. Durch die damals neuen Visualisierungstechniken wie Mikroskopie und Mikrofotografie konnten Krankheitserreger auch für Laien sichtbar gemacht werden. Damit wurden die Ergebnisse der Wissenschaftler in Ausstellungen und Kampagnen popularisiert. Robert Koch (1843 – 1910) formulierte 1889 treffend: Aus einem „unsichtbaren Etwas“ wurde ein „fassbarer Parasit“.
Im Nachkriegsdeutschland wurde Keimfreiheit zum neuen Ideal: Desinfektionsmittel hielten Einzug in jeden Haushalt, Hausärzte verschrieben großzügig Antibiotika. Werbespots prägten eine Sauberkeitsrhetorik: „nicht nur sauber, sondern porentief rein“ sollte es sein. Mit hohem Zeit-, Kraft- und Chemieeinsatz wurde am hochartifiziellen Ideal der „reinen“, vor Sauberkeit glänzenden Wohnung gearbeitet.
Im 21. Jahrhundert wandelt sich das Bild allerdings wieder. Inzwischen nehmen Antibiotikaresistenzen zu, Krankenhauskeime lassen sich nicht mehr mit den gängigen Desinfektionsmitteln in den Griff bekommen. Allergien sind zur Volkskrankheit geworden. Sie stehen im Verdacht durch eine künstlich nahezu keimfrei gehaltene Umgebung begünstigt zu werden. Damit zeigt sich die Kehrseite eines allzu intensiven Gebrauchs von Antibiotika und Desinfektionsmitteln. Seit rund zwanzig Jahren wird das Ideal der „reinen“ Umgebung von einem neuen naturwissenschaftlichen Narrativ abgelöst: Im menschlichen Körper leben etwa zehnmal so viele Bakterien wie Körperzellen. Die meisten von ihnen sind nicht schädlich, sondern notwendig für den Erhalt der Gesundheit. Sie produzieren beispielsweise Vitamine, die unser Körper nicht selbst herstellen kann, oder bringen unserem Abwehrsystem bei, gefährliche Eindringlinge zu erkennen. Die Gesamtheit dieser Kleinstlebewesen, die in und auf uns leben, stehen miteinander und mit dem menschlichen Körper in vielfältigen Wechselwirkungen. Dieser mikrobielle Kosmos ganz eigener Art wird „Mikrobiom“ genannt. Die Forschung dazu steckt noch in den Anfängen. Schon werden jedoch Mikrobenmischungen vermarktet, die sich positiv auf den menschlichen Stoffwechsel auswirken sollen.
Heute lehrt uns das Coronavirus in trauriger Weise, dass auch noch die moderne Welt des 21. Jahrhunderts durch Krankheitserreger vor erhebliche Herausforderungen gestellt werden kann. Drastische Verhaltensänderungen wie der Wegfall des Körperkontakts bei Begrüßungen und verschärfte Hygienemaßnahmen bestimmen für Wochen, wenn nicht Monate unseren Alltag. Stehen wir womöglich gerade wieder vor einem erneuten Wandel unserer hygienischen Verhaltensnormen?
Im nächsten Beitrag dieser Serie blicken wir aber zunächst zurück ins Spätmittelalter: Von welchen Vorstellungen setzte sich die aufklärerische Hygienebewegung ab? Welche Vorstellungen bestimmten damals Gesundheitspflege und Hygiene? Und warum besuchten die Menschen öffentlicher Badhäuser, um wie in einer Sauna zu schwitzen und sich blutig schröpfen zu lassen? Diesen Fragen, die auch in der kommenden Sonderausstellung „Sauberkeit zu jeder Zeit! Hygiene auf dem Lande“ behandelt werden, geht der nächste Beitrag dieser Serie nach.
Werbemarke für das Desinfectionsmittel Pancreolin, um 1900; Foto: deutsches Medicinhistorisches Museum Ingolstadt
Diese Serie stützt sich auf den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung: „Sauberkeit zu jeder Zeit! Hygiene auf dem Land. Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2019, 256 S. mit zahlreichen farbigen Abbildungen, ISBN 978-3-7319-0837-1, 19,95 €, Bezug über Fränkisches Freiland-museum info@freilandmuseum.de oder den Buchhandel.